Nach Corona hat sich die Debattenkultur in Deutschland nie erholt

Alexander King

Während Corona verunglimpften Teile der Medien und Politik impfskeptische Bürger, nun ist es mit Friedensaktivisten so. Die Politik ignoriert zahlreiche Stimmen. Ein Gastbeitrag von Alexander King, veröffentlicht in der Berliner Zeitung vom 12.4.2023

Die Verengung des Diskursraums wird immer wieder beklagt. Und es stimmt ja auch: Kritik an der Regierungspolitik oder allgemein an den vorherrschenden Zuständen wird gerne mal von Politik und Medien als Verschwörungstheorie abgetan.

Für Grenzfälle hat man neue Vokabeln zur Hand: Wem man zwar nicht ernsthaft unterschieben kann, dass er rechtem Gedankengut anhängt, den kann man immer noch als „rechts-offen“ bezeichnen. Wessen Argumente einem nicht nachvollziehbar und irgendwie komisch vorkommen, der „schwurbelt“. Dieses Verdikt kann altehrwürdige bundesrepublikanische Institutionen wie die Ostermarsch- oder gar die Frauenbewegung treffen, und erst recht eine Waffe in neuen Auseinandersetzungen, etwa mit Kritikern der Corona-Politik, sein.

Akteure stammen aus demselben soziokulturellen Milieu

Die zunehmende Konformität im politischen Diskurs ist auch eine Folge der sich vertiefenden sozialen Spaltung. Die Zugänge in die Redaktionsstuben sind enger geworden, seit es die Journalistenschulen der großen Verlage sind, die den Nachwuchs formen. Die höchst individuellen Aufstiegswege, die vom Volontariat durch die unterschiedlichsten Stationen in Print, Funk und Fernsehen führten und dabei interessante Journalistenpersönlichkeiten hervorbrachten, gehören überwiegend der Vergangenheit an. Sozial und kulturell eng gefasst ist auch die Rekrutierung des politischen Führungspersonals, das, wie Studien zeigen, immer homogener wird.

Dass man den Eindruck bekommt, Regierende und Meinungsbildende zögen am selben Strang, hat damit zu tun: Die Akteure stammen aus demselben soziokulturellen Milieu, sie teilen dieselben Werte, sie haben ähnliche soziale Interessen in dieser Gesellschaft. Sie lesen dieselbe Literatur. Sie kennen und treffen sich im Alltag, besuchen dieselben Restaurants und Kulturevents, wohnen in denselben angesagten Stadtteilen.

Sozialer Protest gegen die Grünen? Ein Sakrileg

Ihren reinsten politischen Ausdruck findet dieses Lebensgefühl in den Grünen. Wo immer in Deutschland Meinungen geformt und Normen aufgestellt werden, in Redaktionen, in Bildungseinrichtungen, im Kulturbereich, haben die Grünen und ihr soziokulturelles Umfeld die Lufthoheit erobert.

Jetzt sind sie außerdem an der Bundesregierung beteiligt und dort u.a. für die Außen- und Wirtschaftspolitik verantwortlich, zwei Ressorts, die in der aktuellen Lage noch bedeutsamer sind als ohnehin schon. Kritik an ihrer Performance ist selten und sowieso unerwünscht. Nicht nur, wenn sie von Sahra Wagenknecht formuliert wird. Als ich es wagte, mit dem Protestbündnis „Heizung, Brot und Frieden“ eine Kundgebung vor der Bundeszentrale der Grünen abzuhalten, um gegen die damals noch vorgesehene Gasumlage und andere soziale Härten in der Energiekrise zu demonstrieren, empörten sich manche Journalisten: Sozialer Protest gegen die Grünen? Ein Sakrileg. Das fanden selbst einige meiner Genossen.

Politik und Medien treffen sich auf Twitter

Der großen Einigkeit auf der einen entspricht die Entfremdung vom Rest der Gesellschaft auf der anderen Seite. Politik und Medien treffen sich auf Twitter. Dort entstehen Blasen, die sich vehement voneinander und alle gemeinsam vom Rest der Welt abgrenzen. Ein Paralleluniversum mit eigenen Wahrheiten und Deutungsmustern.

Ich hätte im Januar beinahe eine Wahlkampfveranstaltung mit Sahra Wagenknecht abgesagt, weil in der Twitter-Welt der Eindruck entstanden war, wir hätten mit Gegendemonstranten und Tumulten und außerdem mit rechter Unterwanderung zu rechnen. Gut, dass wir die Veranstaltung durchgeführt haben. Es stellte sich heraus, dass nichts von alldem in der realen Welt eintrat. Besucher von rechts gab es keine, dafür viele linke Sympathisanten und interessierte Nachbarn. Gegendemonstranten von links gab es erst recht nicht, von einem als Krokodil verkleideten Mann mit fünf Kompagnons und einem Hund abgesehen.

Berichterstattung meilenweit von jeder Evidenz

Die Wirklichkeit in und außerhalb der medialen Blase: Ein besonders eindrückliches Beispiel für die Kluft dazwischen gab die Berichterstattung über den „Aufstand für Frieden“ ab. Bereits im Vorfeld war ein vernichtendes Urteil über die Kundgebung gefällt, über angeblich massive rechte Mobilisierung spekuliert worden. Dass es dann ganz anders kam, dass sich am Brandenburger Tor Zehntausende normale Bürger versammelten, Rechte und Russlandfreunde keine Rolle spielten und auch kaum sichtbar waren, tat der medialen Kampagne keinen Abbruch. In den sogenannten Qualitätsmedien, leider auch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, kannte die Verleumdung der Kundgebung und ihrer Initiatorinnen keine Schamgrenze mehr. Teilweise entfernte sich die Berichterstattung meilenweit von jeder Evidenz.

In politischen Magazinen, Talkshows oder Satiresendungen gab es nur einen, und zwar einen extrem feindseligen Tenor. Beängstigend ist die Sogwirkung, die eine solche Kampagne entfaltet: Selbst die Führung der Linken stimmte mit ein.

Die Corona-Debatte nahm religiöse Züge an

Auch Kritiker der Corona-Maßnahmen sahen sich in den letzten Jahren einer massiven Stimmungsmache ausgesetzt. Die Berliner Zeitung gehörte zu den wenigen Medien mit einer differenzierten Berichterstattung und einem diversen Meinungsbild. Ansonsten war es Gang und Gäbe, Ungeimpfte auszugrenzen und zu beschimpfen, Gehorsam gegenüber allen Maßnahmen einzufordern, und diejenigen, die es wagten, den Sinn einzelner Maßnahmen zu hinterfragen, pauschal zu verunglimpfen. Selbst international anerkannte Wissenschaftler mussten sich, wenn sie von der gerade vorherrschenden Lehre abwichen, von Hobby-Virologen medial an den Pranger stellen lassen.

Die Debatte nahm religiöse Züge an. Die Zugehörigkeit zur richtigen Seite konnte durch Äußerlichkeiten, etwa freiwilliges Maskentragen, selbst wo es nicht (mehr) vorgeschrieben war, oder Foto-Bekenntnisse auf dem Facebook-Profil, demonstriert werden. Umgekehrt war, wer sich dieser Symbolik verweigerte, schnell verdächtig, ein Corona-Leugner zu sein.

Wieder wurden viele Menschen mit ihren Sichtweisen übersehen

Zu Beginn meiner kurzen Zeit als Abgeordneter rief ich in meinem Wahlkreis einen Corona-Gesprächskreis ins Leben. Ich wollte wissen: Wer sind die Skeptiker, was bewegt sie? Wir trafen uns monatlich in einem Tempelhofer Park. Es kamen Leute, die sich sonst für Geflüchtete oder in Hausprojekten engagierten, die bislang die Grünen, SPD oder Linke gewählt hatten. Und die sich, weil sie sich nicht impfen lassen wollten oder einzelne Corona-Maßnahmen kritisch sahen, im öffentlichen Diskurs diffamiert sahen. Einige nahmen an Montagsdemos in unserem Bezirk teil. Wir stimmten nicht immer in allem überein, aber mir war der Respekt wichtig. Ich hätte mir mehr solche Diskussionsformate gewünscht.

Nach dem Auslaufen der Maßnahmen und mit dem Beginn des Ukraine-Kriegs stellten wir fest, dass sich die Debattenkultur in Deutschland nicht mehr erholte. Im Gegenteil: Wieder wurden viele Menschen mit ihren Sichtweisen übersehen oder gar verunglimpft. Wir beschlossen, uns weiterhin zu treffen, auch nach dem Ende meines Mandats.

Der Hang zur Konformität schränkt die Freiheit ein

Ein aktuelles Beispiel dafür, dass es sich rächt, die Leute außerhalb der eigenen Blase zu übersehen, ist der Berliner Volksentscheid zur Klimaneutralität. Dieser scheiterte in Bausch und Bogen und den Initiatoren stand anschließend der Schock darüber ins Gesicht geschrieben, dass es in Berlin so viele Menschen gibt, die sie offensichtlich nicht erreichen konnten – deren Interessenlage sie schlicht nicht auf dem Schirm hatten. Die Menschen, die nicht in Kreuzberg, Schöneberg oder Mitte wohnen, sondern in Marienfelde, Spandau oder Marzahn. Hilflos erklären Luisa Neubauer & Co., diese Menschen hätten eben „noch nicht verstanden“. Demokratie heißt aber, dass die Mehrheit recht bekommt und nicht, wer sich selbst für am schlauesten hält.

Der Hang zur Konformität schränkt die Freiheit ein und führt dazu, dass kritische Gedanken nicht wachsen, sich nicht im offenen Diskurs bewähren und diesen bereichern können, sondern allzu schnell vom Tisch gewischt werden. Dabei können unvoreingenommen geführte Debatten dazu beitragen, wieder Anschluss an breitere Teile der Bevölkerung zu finden, deren Ansichten und Anliegen im herrschenden Konsens keinen Platz haben. Doch eigensinnige Köpfe als Gewinn zu sehen, haben sich Parteiführungen und Medien leider abgewöhnt.

Die Mehrheit der Bevölkerung folgt dem Konsens von oben nicht mehr ohne Weiteres, wie insbesondere das öffentliche Meinungsbild zu Waffenlieferungen und Friedensverhandlungen im Ukraine-Krieg zeigt. Die Widerständigkeit der Menschen, die sich allen Belehrungen zum Trotz ihre eigene Meinung bilden, ist ein Hoffnungsschimmer. Die zunehmende Konformität in Medien und Politik hat in diesem Sinne nur eingeschränkt mit gesellschaftlicher Hegemonie zu tun. Eigentlich gleicht sie eher einer Trutzburg.

Alexander King war von Dezember 2021 bis März 2023 Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses und medienpolitischer Sprecher der Linksfraktion. Seit März arbeitet er als Referent im Bundestag.

Zum Artikel in der Berliner Zeitung