Nach dem Scheitern der Impfpflicht: Nachbarn diskutieren über Wege aus der Spaltung.
Einmal im Monat diskutiere ich mit Anwohnern meines Stadtbüros in Tempelhof darüber, wie die Wunden, die die Impfpflicht-Debatte in unsere Gesellschaft geschlagen hat, geheilt werden können.
Es war bereits das dritte Open-Air-Treffen. Nach zwei Versammlungen im eisigen Wind auf dem Tempelhofer Feld entschieden wir uns am vergangenen Freitag für ein geschütztes Plätzchen im Bosepark. Bis zu 20 Leute versammeln sich in unserer Runde. Frauen und Männer zu gleichen Anteilen, auch junge, aber überwiegend ältere. Alle verstehen sich als Linke. Gewählt haben sie bislang DIE LINKE, die SPD oder die Grünen. Manche engagieren sich in Mieterinitiativen, in alternativen Wohnprojekten oder für die Aufnahme und den Schutz von Flüchtlingen. Sie alle hatten das Gefühl, in der Corona-Debatte heimatlos geworden zu sein. Weil sie Maßnahmen oder die Impfpflicht kritisierten, vielleicht sogar dagegen auf die Straße gingen, wurden sie angefeindet von Leuten, denen sie immer politisch und oft auch persönlich nahestanden.
Als ich begann, zu unseren Gesprächsrunden einzuladen, verstand ich erst, wie viele sie sind. Und welche Wunden die Corona-Debatte geschlagen hat. Ich bin deshalb der Meinung, dass sich der Bundesgesundheitsminister Lauterbach und seine Verbündeten für ihre zerstörerische Kommunikation in Sachen Impfpflicht entschuldigen müssen. Diese haben sie ohne jede Rücksicht auf Verluste vorangetrieben, dabei die Gesellschaft tief gespalten und der Demokratie großen Schaden zugefügt.
Am Tag vor unserem letzten Nachbarschaftstreffen war die Impfpflicht ab 60 im Bundestag mit klarer Mehrheit abgelehnt worden. Die allgemeine Impfpflicht, also für Alle ab 18 Jahren, war bereits zuvor heimlich, still und leise abgeräumt worden. Dass es keine guten Argumente für eine Impfpflicht mehr gab, merkte man dem völlig verquasten Kompromissvorschlag an, der schließlich dem Bundestag vorgelegt und dort zurückgewiesen wurde. Es wäre mit Sicherheit genauso ein Flop geworden wie die einrichtungsbezogene Impfpflicht. Zum Schluss ging es nur noch darum, gesichtswahrend auszusteigen. Selbst das ist missglückt. Und das ist völlig richtig so.
Die Diskussionsteilnehmer waren sich einig, dass das Scheitern der Impfpflicht eine gute Nachricht ist. Sie würdigten den hohen persönlichen Einsatz von Politikern wie Sahra Wagenknecht, die für ihre kritische Haltung viel Prügel einstecken mussten, aber auch den Mut Derjenigen, die gegen die Impfpflicht auf die Straße gegangen sind, obwohl sie damit rechnen mussten, dafür gesellschaftlich geächtet zu werden.
Ist nun also alles gut? Vielleicht noch nicht ganz. Unter den Diskussionsteilnehmern befürchteten am Freitag einige einen späteren erneuten Vorstoß des Bundesgesundheitsministers in Richtung Impfpflicht. Außerdem wurde darauf verwiesen, dass die einrichtungsbezogene Impfpflicht immer noch gilt, obwohl sie de facto kaum durchgesetzt werden kann, weil der Vollzug für die Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen nicht nur weiteren Personalverlust, sondern einen unverhältnismäßigen bürokratischen Aufwand mit sich bringt. Auch die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht über die EU-Ebene wurde noch für möglich gehalten.
Zu einer vernunftgeleiteten Corona-Debatte würde außerdem gehören, endlich das Thema Impf-Nebenwirkungen zu enttabuisieren. Berichte darüber finden langsam den Weg in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und die sogenannte Qualitätspresse. Und auch in unserer Diskussionsrunde wurden einige Erfahrungen aus den Bekanntenkreisen der Anwesenden zusammengetragen.
Können wir also zu einer vernünftigen Debatte darüber zurückkehren, wie die Pandemie am besten zu managen wäre im Sinne der einzelnen Menschen und der Gesellschaft? Gibt es eine Chance, dass die Wunden heilen? Wer sich noch vor Wochen gegen die allgemeine Impfpflicht ausgesprochen hat, musste sich als Schwurbler und Schlimmeres beschimpfen lassen. Mit Konsequenzen für die Betroffenen, die von Isolation im persönlichen Umfeld bis zu Hass- und Drohmails reichten. Viele zwischenmenschliche Beziehungen, im Freundeskreis, in der Familie, unter Kollegen und Schulkameraden, sind daran kaputt gegangen und schwer wieder zu reparieren. Die Öffentlichkeit wurde an Zensur, das Unsichtbarmachen anderer Meinungen, gewöhnt. Ein schlechtes Vorzeichen für alle politischen Debatten, die wir in Zukunft noch zu führen haben werden.
Wer, wie es zumindest in der Linken bislang üblich war, wirtschaftliche Interessen hinter politischen Entscheidungen hinterfragen wollte (also etwa die Rolle der in Deutschland sehr starken Pharma-Lobby), sah sich dem Vorwurf ausgesetzt, Verschwörungstheorien anzuhängen, und war damit Schach Matt gesetzt. Die Analyse von Machtverhältnissen und ihres Niederschlags in der Politik wurde ersetzt durch schlichte Gut- und Böse-Zuschreibungen.
Trotzdem, nach dem Scheitern der Impfpflicht besteht Hoffnung: dass man sich wieder zuhört, dass Maßnahmen zum Infektionsschutz ohne religiösen Eifer diskutiert werden können, dass vielleicht der eine oder die andere sagt: Die Argumente meines Gegenübers könnten auch richtig sein. In dieser Hoffnung werden wir unseren Gesprächskreis fortführen.