Wer ist die Partei der Armen?
Referat von Alexander King im Berliner Salon des Freiblickinstituts (30.6.2022, aufgrund von Corona-Erkrankung per Zoom zugeschaltet)
Vielen Dank für die Einladung und die Gelegenheit, Sie und dieses interessante Format kennen zu lernen.
Es tut mir leid, dass ich nicht bei Ihnen im Café sitzen kann, das wäre sicher netter gewesen.
Aber ich freue mich, dass es die Möglichkeit gibt, mich hier über Zoom dazuzuschalten. Nicht weil ich so wahnsinnig wichtige Dinge zu sagen hätte, sondern weil mich vor allem interessiert, wie Sie, die Teilnehmer und Veranstalter, diese wichtige Frage, die heute Abend ansteht, diskutieren.
Es ist eine zentrale Frage, die mich sehr stark umtreibt, denn sie rührt an den Grundfesten der Demokratie.
Wir haben in Deutschland eine große und immer weiterwachsende Repräsentationslücke. Das heißt, immer mehr Bürger dieses Landes fühlen sich von den Parteien, die zur Wahl stehen, nicht vertreten. Und immer weniger Leute gehen deshalb wählen.
Es sind vor allem die „Ärmeren", die nicht mehr wählen gehen. Bei der letzten Bundestagswahl lag die Wahlbeteiligung in Marzahn-Hellersdorf um 20 Prozentpunkte unter der in Steglitz-Zehlendorf. Wer wählen geht und wer nicht, ist also eine soziale Frage.
Gestern kam der neue Armutsbericht der Bundesregierung heraus. Demnach ist die Armutsquote in Deutschland auf 16,6 Prozent gestiegen – so hoch wie noch nie und so steil wie noch nie.
Als arm gilt hier, wer weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung hat, also etwa ein 1-Personen-Haushalt mit 1200 Euro. Vom Anstieg der Armut besonders betroffen sind prekär Beschäftigte, Selbstständige, Rentner und leider auch Kinder und Jugendliche.
Nun lässt sich Armut nicht nur wirtschaftlich, also in der Höhe des Haushaltseinkommens, ausdrücken, sondern auch im Hinblick auf kulturelle und politische Teilhabe, auf die Bildungs- und Berufsperspektiven der nachwachsenden Generation, Aufstieg oder Abstieg in der gesellschaftlichen Anerkennung, also welche bzw. wessen Werte und Normen erfahren in der Gesellschaft Wertschätzung etc. Meist, aber nicht immer, gibt es da große Überschneidungen mit der wirtschaftlichen Lage.
Was wir beobachten, ist ein sich selbst verstärkender Prozess. Die Menschen, die ihre Interessen nicht mehr vertreten sehen von den Parteien in unserem Parteiensystem und deshalb nicht mehr wählen gehen, geraten dadurch erst recht aus dem Blickfeld der Politik.
Die SPD hat einst das große Bündnis zwischen Mitte und Unten zusammengehalten. Bildungsaufsteiger, z.B. Lehrer, haben sie ebenso gewählt wie Arbeiter und Kleinrentner. Mit der Agenda 2010 (Arbeitsmarktreform, Riester-Rente etc.) hat die SPD die Interessen dieser zweiten Gruppe verraten und daraufhin über die Jahre etwa die Hälfte ihrer Wähler verloren.
In den ersten Jahren nach ihrer Gründung war es dann DIE LINKE, die davon profitierte, dass viele Wähler wieder Hoffnung schöpften und zur Wahlurne strömten. Ab 2012 wandte sich auch DIE LINKE stärker der urbanen akademischen Mittelschicht zu und verlor die „armen" Wähler. In diesem Fall war es vor allem eine kulturelle Entfremdung, weniger eine programmatische.
Später profitierte eine Zeit lang die AfD von höherer Wahlbeteiligung. Aber die AfD hat zwei Probleme: Sie ist politisch nicht kohärent, hat teilweise ein neoliberales Programm, das den Interessen der „armen" Wähler widerspricht. Und sie hat, zum Glück, ein unfähiges Personal. Von ihrer menschenverachtenden Ideologie, die auch einen Teil der „Armen" abstößt, ganz abgesehen.
Die soziale Spaltung – ich sage mal verkürzt, in Gewinner und Verlierer des gesellschaftlichen Wandels – ist mittlerweile so tief, dass sich Menschen unterschiedlicher Milieus gar nicht mehr begegnen.
Das Kind eines Ärzteehepaars kann heute aufwachsen, ohne überhaupt einmal die Bekanntschaft eines Kindes eines Metzgermeisters oder Automechanikers zu machen. Das war früher noch nicht so. Heute stehen sich beide Gruppen völlig fremd und sogar ablehnend gegenüber. Sie haben gegensätzliche Interessen und sogar völlig unterschiedliche Alltagskulturen entwickelt. Das hat auch Auswirkungen auf die Möglichkeit politischer Teilhabe.
Wer heute in eine Partei, sei es DIE LINKE, die SPD oder die Grünen, oder eine politische Organisation eintritt, wer Journalist, Professor, Lehrer oder Richter wird, wer also antritt, die Werte und Normen unserer Gesellschaft zu formen, stammt mit sehr großer Wahrscheinlichkeit (größer als früher) aus immer demselben Milieu, hat denselben Bildungsweg beschritten, pflegt einen ähnlichen Lebensstil.
Daraus abgeleitet teilen diese Menschen dieselben Wertvorstellungen, Normen, sozialen Interessen. Es sind logischerweise nicht die Wertvorstellungen, Normen und sozialen Interessen der unteren Mittelschicht oder der „Armen". Da für sie politische Entscheidungen sich nicht unmittelbar auf ihre wirtschaftliche Situation auswirken, können sie es sich leisten, sich von moralischen Vorstellungen, Ideologie, der „richtigen" Haltung leiten zu lassen.
Ich will das selbstkritisch am Beispiel des LINKEN Parteitags in Erfurt darstellen. Dort hatten wir eine stundenlange Sexismus-Debatte, ein FLINTA*-Plenum und einen Workshop zu „Kritischer Männlichkeit", außerdem eine Ukraine-Debatte, die überwiegend emotional geführt wurde. Das ist wichtig und aller Ehren wert. Aber es fehlten die Debatten darüber, was all das konkret für die einfachen Menschen in Deutschland bedeutet – jenseits davon, ob etwas moralisch richtig oder falsch ist.
Die Energiekrise, der dramatische Kaufkraftverlust mit den steigenden Lebenshaltungskosten, die Angst vor Arbeitsplatzverlust infolge der Energieverknappung, all das spielte auf dem Parteitag kaum eine Rolle. Dementsprechend dürfte das Interesse derjenigen, für die diese Fragen überlebenswichtig sind, an dem Parteitag gering gewesen sein.
Ich habe vor dem Parteitag, gemeinsam mit Sahra Wagenknecht und über 80 weiteren LINKE-Politikern einen Aufruf für eine „Populäre Linke" unterschrieben. Der Aufruf wurde mittlerweile von über 6000 Leuten unterzeichnet, Mitglieder und Sympathisanten.
Ich will kurz skizzieren, was ich mir unter einer Populären Linken vorstelle:
1) Eine klassenorientierte Politik. Also eine klare Orientierung an den Interessen der Arbeitnehmer, Rentner, Erwerbslosen. Im Mittelpunkt müssen die Fragen stehen, die diese Menschen sich stellen: Werden wir sicher und in Frieden leben? Werden wir weiter Autofahren, im Winter heizen, die Stromrechnung bezahlen können? Wird die Rente reichen? Werden die Kinder eine gute Ausbildung erhalten? Welche beruflichen Perspektiven eröffnen sich für sie in einer ökologisch angepassten Wirtschaft?
2) Politische Fragen nicht moralisch, sondern in Bezug auf die reale Interessenlage der Ärmeren diskutieren: Die „Armen" können sich den Altruismus und die Moral der gehobenen Mittelschicht nicht leisten. Für sie geht es bei jeder Entscheidung ans Eingemachte, an den Geldbeutel.
3) Da geht es viel um Sicherheit. Und dazu gehört auch Wertschätzung und Respekt für ein stabiles alltagskulturelles Umfeld, das den Menschen Halt gibt: Nachbarschaft, Zusammenhalt, gemeinsam geteilte Wertvorstellungen, Traditionen. Viele Menschen, gerade die „Armen", haben das Gefühl, dass die Elite ihnen ein „modernes", „weltoffenes" Lebensgefühl aufdrücken will und über ihre Lebensweise die Nase rümpft.
4) Dass sich viele Menschen von der Politik abgewandt haben, heißt nicht, dass sie nicht ziemlich gut Bescheid wissen. Sie sehen nur einfach keine Möglichkeit, sich einzubringen. Eine Populäre Linke sollte sich die Erneuerung unserer Demokratie auf die Fahnen schreiben. Jetzt wäre die Zeit für mehr direktdemokratische Elemente. Vor allem wäre es Aufgabe einer Populären Linken, den Unmut der Bevölkerung über eine immer stärkere Reglementierung der öffentlichen Meinung aufzugreifen.
5) Studien bestätigen, dass die Bedeutung von Personen, ihrer Glaubwürdigkeit, Authentizität und Sympathie für die Beurteilung politischer Angebote durch die Wähler zunimmt. Das gilt vor allem für die Wähler, die mit Partei- und Wahlprogrammen nicht (mehr) erreicht werden – weil sie keine Zeit haben, sie zu studieren, weil sie nicht mehr an das glauben, was da geschrieben steht, weil sie sich von der Sprache, die darin gepflegt wird, überfordert fühlen.
Viele Menschen warten sehnsüchtig auf ein entsprechendes politisches Angebot, wie Umfragen zeigen.
Und jetzt bin ich gespannt auf die Diskussion.