Sollte Sahra Wagenknecht eine neue Partei gründen?

Die Linken-Abgeordnete nimmt sich Zeit bei der Entscheidung, ob sie mit einer eigenen Partei zur Bundestagswahl antritt. Ein Egotrip? Im Gegenteil, meint ihr Parteikollege.

Sahra Wagenknecht nimmt sich Bedenkzeit. Erst gegen Ende des Jahres will sie über eine mögliche Parteineugründung entscheiden. Die interessierte Öffentlichkeit und die Linke fühlen sich auf die Folter gespannt. Ist das kapriziös? Ein Egotrip, wie manche sagen? Nein, im Gegenteil. Sowohl, dass Wagenknecht über eine neue Partei nachdenkt, als auch, dass sie sich dafür Zeit lässt, ist Ausdruck politischer Verantwortung.

Anfang Juni beschloss der Parteivorstand der Linken: Die Zukunft der Linken ist eine Zukunft ohne Wagenknecht. Dieser Beschluss ist keineswegs eine Reaktion auf die Gerüchte um Wagenknechts Parteineugründung, wie gerne behauptet wird. Vielmehr verhält es sich umgekehrt.

Der Beschluss ist der Endpunkt einer jahrelangen innerparteilichen Auseinandersetzung. Diese Auseinandersetzung wurde bekanntlich mit harten Bandagen gegen Wagenknecht und ihre Unterstützer geführt und nahm immer wieder kampagnenartige Formen an. Diese Erfahrung mag in der Diskussion über eine Ausgründung durchaus eine Rolle spielen. Aber es gibt weit wichtigere Erwägungen, die die Diskussion leiten sollten.

Symbolpolitik und Rezession

Deutschland ist die einzige größere Volkswirtschaft, die in diesem Jahr einen Abschwung erlebt. Der Internationale Währungsfonds (IWF) prognostiziert ein Minuswachstum von 0,3 Prozent. Da die Wirtschaft in anderen Ländern besser läuft, muss die deutsche Krise etwas mit der Politik der Bundesregierung zu tun haben: Die übereifrige Sanktionspolitik, die Energiepreiskrise, die hohe Inflation, der Kaufkraftverlust für breite Teile der Bevölkerung, die gleichzeitige Explosion der Konzerngewinne ohne effektive Extragewinnabschöpfung, der unverantwortliche Geiz der Bundesregierung bei öffentlichen Investitionen und bei der Bekämpfung von Armut, insbesondere von Kinder- und Altersarmut – die Politik der Ampel spaltet die Gesellschaft und zerstört die Substanz der deutschen Wirtschaft, von Industrie und Mittelstand.

Unternehmen verlagern Investitionen ins Ausland. Viele Menschen fürchten um ihre Arbeitsplätze. Armut und Armutsgefährdung nehmen zu. Der grüne Wirtschaftsminister Habeck tut das als „German Angst“ ab. In Spanien, das einen effektiven Energiepreisdeckel eingeführt hat, liegt das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr bei 2,5 Prozent. Die USA, die Milliarden in den Schutz ihrer Industrien investieren und außerdem als Ersatzlieferant von Öl und Gas von der Sanktionspolitik gegen Russland profitieren, dürfen sich über ein Wachstum um 1,8 Prozent freuen.

Der Clou: Die Wirtschaft Russlands, das laut Außenministerin Baerbock durch die Sanktionen ruiniert werden sollte, wächst nach IWF-Angaben in diesem Jahr um 1,5 Prozent. Die Sanktionen wirken – leider gegen Deutschland.

Aber es gibt auch gute Nachrichten: Zeitgleich mit der IWF-Prognose erreichte uns frohe Kunde aus dem grün regierten Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Dort sollen, wenn es nach Bürgermeisterin Herrmann geht, in Zukunft schwule und lesbische Ampelmännchen und -frauchen den Fußverkehr regeln. Herrmann will damit „ein klares Zeichen setzen“.

Die neue grüne Elite infantilisiert die Politik und markiert ihren Herrschafts- und Erziehungsanspruch im Alltag der Menschen. Einige werden sich über die neuen Ampelmännchen freuen. Viele andere werden sich kopfschüttelnd von dieser „Politik“ abwenden, die uns zu besseren Menschen machen will, aber es nicht schafft, den Menschen Sicherheit und einen optimistischen Ausblick auf ihre Zukunft zu geben. Statt der Ampelmännchen sollte man besser die ganze Ampel austauschen.

Die Repräsentationslücke

So vergrößert die herrschende Politik beständig das Lager der Unzufriedenen. Dass im deutschen Parteiensystem eine Repräsentationslücke klafft, dass also ein großes Meinungsspektrum durch die bestehenden Parteien nicht abgedeckt wird, dass die Interessen eines bedeutenden Teils der Bevölkerung nicht gesehen und berücksichtigt werden, dass sich deshalb viele Menschen von der Politik ab- oder aus Protest der AfD zuwenden, das alles ist bekannt und wurde oft beschrieben.

Umso erstaunlicher ist es, dass diese Lücke nicht bearbeitet wird. Im Gegenteil: Sie wird immer größer, in dem Maße, in dem die etablierten Parteien sich in den zentralen Prämissen annähern.

Strategiewechsel bei der Linken

Das gilt auch für die Linke. Sie richtet ihren strategischen Kompass derzeit völlig neu aus. Sie verabschiedet sich endgültig aus dem Nahkampf mit der AfD um die Protestwähler. Sie will stattdessen künftig vor allem um Grünen-Wähler werben, die enttäuscht sind, weil sich die Grünen in den Widersprüchen zwischen Idealismus und Regierungshandeln verheddern, wie beim EU-Flüchtlingskompromiss oder in der Klimapolitik.

Ihre Neuorientierung hat die Linke nun mit der Nominierung der parteilosen Flüchtlings- und Klimaaktivistin Carola Rackete als Spitzenkandidatin zur EU-Wahl unterstrichen. Von einer „Anti-Wagenknecht“ ist da die Rede. Ihr Team aus „Bewegungsaktiven“ will, unterstützt von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und linken Zeitungsprojekten und unter dem Beifall des Parteivorstands, die Linke „konstruktiv neugründen“.

Ihr Publikum wird diese neue Linke vor allem in Universitätsstädten und in den urbanen Zentren finden, in gentrifizierten Altbauvierteln, eher unter jungen und akademisch gebildeten Wählern. Es sind dieselben Zielgruppen, auf die auch die Grünen – bislang erfolgreich – aus sind und um die sich auch andere Parteien bemühen. Vielleicht weil es Wählergruppen mit hoher Wahlbeteiligung sind?

In Sonneberg haben wir im zweiten Wahlgang zur Landratswahl gesehen, wer derzeit die größten Reserven im Nichtwählerlager hat: Es ist die AfD. Das Feld für die AfD wird also immer größer – und damit die Notwendigkeit, Paroli zu bieten.

Unterrepräsentiert: die Mitte der Gesellschaft

Wenn wir von den politisch derzeit nicht repräsentierten Teilen der deutschen Bevölkerung sprechen, dann geht es nicht um Minderheiten mit schrägen Ansichten. Im Grunde geht es hier um die Mitte unserer Gesellschaft. Die Menschen, die unseren Wohlstand schaffen und absichern, indem sie arbeiten gehen, Familien gründen, Kinder großziehen. Es sind die Menschen, die sich am unmittelbarsten in den Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaft bewegen.

Ausgerechnet sie geraten zunehmend aus dem Blickfeld der Mitte-Links-Parteien – und umgekehrt, wie man daran erkennt, dass Wähler in den entsprechenden Alters- und Berufskohorten kaum noch die Linke, schon gar nicht die Grünen und immer weniger die SPD, dafür immer häufiger die AfD wählen.

Bei ihnen schlägt die zerstörerische Politik der Ampel (und ihrer Vorgänger) am deutlichsten zu Buche. Sie sehen diese Politik im Portemonnaie, am Zustand der Kita oder Schule ihrer Kinder, als Pendler auf den Verkehrswegen, im Umgang mit Behörden, am Arbeitsplatz.

Und zugleich haben sie kaum noch aktive politische Teilhabe. Diese bleibt zunehmend einer Beteiligungselite vorbehalten, die sich aus recht engen soziokulturellen Milieus rekrutiert. Die Wut über junge Studienabbrecher in der Politik mag populistisch sein, aber sie rührt genau daher. Viele fragen sich: Was wissen diese Politiker über unser Leben als Arbeitnehmer, als Eltern?

In den gesellschaftlichen Großkonflikten der letzten Zeit brachten sich die Mitte-Links-Parteien und ihre Vertreter regelmäßig in Widerspruch zu diesen Menschen. Stichworte sind hier das Heizungsgesetz, die Klimapolitik insgesamt, die Corona-Maßnahmen und der Umgang mit Kritikern, die Migrationspolitik, die nervige, aber durchaus wichtige Debatte um die Gendersprache, die von vielen vor allem als Elitensprache abgelehnt wird.

Mitte-Links-Parteien nehmen hier häufig Positionen ein, die eher von den Eliten geteilt und von den arbeitenden Menschen mit mittleren und kleinen Einkommen abgelehnt werden.

Ein neues politisches Angebot?

Die angesprochene Repräsentationslücke zu füllen, könnte ein wesentlicher Beitrag dazu sein, die Demokratie in Deutschland zu stärken.

Die Eckpfeiler eines solchen politischen Angebots wurden bereits medial diskutiert: eine vernünftige Wirtschaftspolitik, die bezahlbare Energie für Privathaushalte und Unternehmen sicherstellt und gute Perspektiven für alle in einer nachhaltig umgestalteten und digital weiterentwickelten Volkswirtschaft schafft; eine Finanzpolitik, die massiv in die Infrastruktur und Bildung sowie Armutsbekämpfung investiert und dafür auch große Vermögen und Extragewinne heranzieht; eine friedliche Außenpolitik, die nicht von moralischem Überschuss, sondern von Interessen geleitet ist – von den eigenen und von den Interessen der anderen; und schließlich Respekt vor den kulturellen Prägungen und Werten der Menschen in unserem Land. Gesellschaftliche Modernisierung, die notwendig ist, soll den Zusammenhalt stärken und nicht die Leute vor den Kopf stoßen.

Braucht Deutschland dafür eine neue Partei? Möglicherweise. Aber nur, wenn sie einen echten Unterschied zu den bestehenden Parteien schüfe. Und wenn sie das Potenzial hätte, die Politik der Ampel grundlegend zu verändern, die Enttäuschten wieder in die Politik zurückzuholen, den Aufstieg der AfD zu stoppen und in Deutschland Druck für eine friedliche Außenpolitik zu entfalten.

Andererseits: Der Aufbau einer solchen Partei wäre mit gewaltigen organisatorischen Herausforderungen verbunden – und das in einer Zeit, in der die Menschen in Deutschland mit gewaltigen Problemen konfrontiert sind, denen man sich zuwenden muss und die eigentlich wenig Raum für organisationspolitische Debatten lassen.

Auch müsste die Frage beantwortet werden, welche Weichen für ein dauerhaftes Funktionieren eines solchen Projektes gestellt werden müssten. Zu viele Menschen sind bereits von der Politik enttäuscht. Auf keinen Fall darf eine mögliche Parteineugründung die nächste große Enttäuschung produzieren. Auch in dieser Abwägung liegt eine große Verantwortung.

Zum Autor: Alexander King ist Sprecher für Medienpolitik und Sport der Linksfraktion im Berliner Abgeordnetenhaus.

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